Eine Jugend im Holocaust

Eine Jugend im Holocaust

Als Abba Naor am 2. Mai 1945 in der Nähe von Bad Tölz befreit wird, ist er etwa so alt wie die über 100 Schülerinnen, denen er im Januar 2019 an unserer Schule gegenübersteht. Sein Bericht, was er in ihrem Alter bereits hatte durchmachen müssen, erzeugt gebannte, teils bedrückende Stille in dem vollbesetzten Raum. Im Alter von 13 Jahren wird Abba Naor abrupt seiner Kindheit entrissen, aus seiner litauischen Heimat vertrieben, in das Ghetto in Kaunas verschleppt, in den Konzentrationslagern Stutthof, im Dachauer Außenlager Utting am Ammersee und in Kaufering ausgebeutet und schließlich auf den Todesmarsch geschickt. Nahezu seine gesamte Familie wurde im Holocaust ermordet. Abba Naor jedoch überlebte brutale Demütigungen, Hunger und Unterversorgung, Kälte, Krankheiten und lebensverachtende Ausbeutung durch Zwangsarbeit.

Wer seine Geschichte hört, fragt sich unwillkürlich, wie jemand solche Strapazen und Gefahren überleben kann, ein System, in dem Ausbeutung ein Nebeneffekt, der Hauptzweck aber die Vernichtung von Menschenleben war. Herr Naor schildert in seiner zunächst irritierenden, äußerst trockenen Art die Strategien des alltäglichen Überlebens und die Begebenheiten, die ihm den sichereren Arbeitseinsatz als Lokführer statt des lebensgefährlichen Einsatzes im Steinbruch einbrachten; am Ende bleibt ihm jedoch nur eine Schlussfolgerung: Wer überlebte, das war reiner Zufall.

Umso wichtiger seine Botschaft, die er mit anderen Zeitzeugen teilt: Der Holocaust wäre ohne die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten, ohne den Vernichtungskrieg des Deutschen Reiches nicht geschehen. Er hätte aber ohne die aktive Mithilfe von Antisemiten in den besetzten Gebieten in ganz Europa nicht dasselbe Ausmaß annehmen können. Was das für die Gesellschaft und jeden Einzelnen bedeutet, wird angesichts des Einzelschicksals jedem Zuhörer bewusst: Verantwortung; für das Erinnern, für die Zukunft, für das eigene Verhalten und für andere Menschen.

Nichts kann dies klarer und eindrücklicher ins Bewusstsein rücken als die Erzählungen eines Überlebenden des Holocaust. Die Schülerinnen sind sich dessen sehr bewusst, ebenso wie der Tatsache, dass sie zu den letzten Jahrgängen gehören, die noch die Gelegenheit zu solch besonderen Begegnungen haben. Dass sie dieses Privileg zu schätzen wissen, zeigt sich an den interessierten Nachfragen ebenso wie an dem Dank, den die Schüler*innen mit anhaltendem Applaus, aber auch im Anschluss persönlich an Herrn Naor richten.
Wir wünschen Herrn Naor alles Gute, beste Gesundheit und noch viel Zeit mit seiner Familie und hoffen, dass er noch vielen anderen Menschen seine Geschichte vermitteln kann.

Richard Seidl